Warum sich die Interimszeit Rangnicks (bisher) als Fehler herausstellt.

11. April 2022
Von Adam Englert
Die 0:1 Niederlage gegen abstiegsbedrohte Toffees im Goodison Park war der nächste Tiefpunkt in einer ohnehin schon historisch schlechten Spielzeit. Mit der Niederlage ist Ralf Rangnick mit nur 47% Siegquote der statistisch schlechteste United-Trainer in der Premier League Historie. Für die strukturellen Probleme im Verein kann man dem Fachmann keinen Vorwurf machen, dennoch war der Interimstrainer mittlerweile fast fünf Monate im Amt, weshalb man die Frage doch stellen darf, was die so verheißungsvolle Personalie Rangnick dem Verein gebracht hat.
Ein neues Zeitalter?
Die englische Medienlandschaft staunte nicht schlecht, als Manchester United nach der Entlassung Solskjaers im November Ralf Rangnick aus dem Hut zauberte. Als Interimstrainer hatte man so einige Namen auf dem Zettel, aber den in England eher unbekannten Schwaben hatte wirklich keiner der Journalisten erwartet. In Zeiten des Internets dauerte es aber nicht lange, eher man auch im Mutterland des Fußballs eine Ahnung hatte, welches Potenzial der Name Rangnick mit sich bringen würde. Schnell machten Videos seiner interessanten Fußballvorträge in den sozialen Netzwerken die Runde, in denen er auf eloquente Weise und fast perfektem Englisch seine taktischen Vorgaben und Ideen zum besten gab. Egal, ob “Professor”, “Godfather of Pressing” oder “Mentor Klopps”, alle Spitznamen deuteten daraufhin, dass man den alemannischen Fußballfachmann schlechthin ins Boot geholt hatte. Mit Blick auf die so erfolgreichen Deutschen wie Klopp, Tuchel, Flick oder Nagelsmann hatte man also berechtigte Hoffnung, dass Rangnick das wankende United zurück in die Spur helfen würde.
Dieser erste Eindruck bestätigte sich auch sofort, denn Rangnick begeisterte auf seiner ersten PK, gab intelligente Antworten auf alle Fragen und schilderte sein Vorhaben womöglich über die Saison hinaus Trainer zu bleiben, oder immerhin als Berater in führender Position den Verein zur Verfügung zu stehen. Dabei machte sich gar das Gerücht breit, dass Rangnick wie auch in Leipzig und Hoffenheim zum Sportdirektor aufsteigen würde und wie ein Architekt das bröckelnde Manchester United von neu aufbauen würde. Rangnick begeisterte United-Fans sofort und nach langer Zeit hatten die Beobachter das Gefühl, dass der Verein wieder in guten Händen sei. Beim 1:0 gegen Palace bei Rangnicks Debüt Anfang Dezember wurde auch sofort diese prägnante Handschrift des deutschen Trainers sichtbar. United zeigte anders wie in den letzten desolaten Wochen unter Solskjaer eine dominante Vorstellung sowohl in der Defensive als auch im Angriff und gewann verdient gegen einen respektablen Gegner durch ein herrliches Tor von Fred. Gegen Norwich folgte dann ein eher blutleerer Auftritt, dennoch gewann man wieder mit 1:0 durch einen Ronaldo-Elfer. United hatte zwar nicht überzeugt, allerdings schien der zweite “Zu-Null-Sieg” in Folge Beweis genug, dass sich die Dinge zum Guten wenden würden.
Knackpunkt Newcastle?
Die darauffolgenden Partien gegen Brentford und Brighton wurden aufgrund eines Coronausbruchs bei United verschoben, weshalb man bis zum 27. Dezember warten musste, ehe die Rangnick-Elf wieder ein Ligaspiel bestreiten durfte. In dieser Partie taten sich unter Rangnick jedoch die ersten Risse auf, denn Newcastle, ebenso unter neuem Trainer Eddie Howe, war über 90 Minuten das bessere Team, sodass United Glück hatte durch einen späten Treffer Cavanis mit einem 1:1 aus dem St. James’ Park zu entkommen. So alarmierend der Auftritt auch war, hatte man als United-Fan dennoch die Hoffnung, dass die Performance auf die mangelnde Spielpraxis nach der Coronapause zurückzuführen sei. Leider bewahrheitete sich der schwache Auftritt nicht als einmaliger Ausrutscher, sondern eher als Norm, da United in den Wochen darauf immer wieder über Teams aus der unteren Tabellenhälfte stolperte und viele wichtigen Punkte vergab (0:1 vs Wolves, 2:2 vs. Villa, 1:1 vs. Burnley, 1:1 vs. Southampton, 0:0 vs. Watford, 1:1 vs. Leicester), während man im Manchester Derby eine Abreibung bekam (1:4) und überraschend im FA Cup zuhause an Middlesbrough scheiterte. Zwar hatte der Deutsche lange Zeit eine bessere Siegquote als sein norwegischer Vorgänger, aber auch die eindeutig „leichteren“ Gegner, weshalb man im Nachhinein zumindest deutlich mehr Punkte erwartet hätte.
Neben der sportlichen Flaute, gelang es Rangnick darüber hinaus auch nie, die schlechte Stimmung in der Mannschaft zu beheben. Schon auf dem Platz war die Unzufriedenheit der Spieler mit sich selbst und den Mitspielern zu spüren, wobei verzweifelte Handgesten und Lamentieren stets zur Tagesordnung gehörten. Dabei brachte sich Rangnick auch das ein oder andere mal selbst verbal in die Bredouille, als er beispielsweise behauptete, dass sich Anthony Martial geweigert hatte zum Auswärtsspiel in Brentford mitzufahren, woraufhin der Franzose dieser Sichtweise widersprach. Nach dem desolaten Manchester Derby zeigte sich Rangnick ebenso verwundert, dass Cristiano Ronaldo unerlaubt nach Portugal geflogen war. Eine Woche später beim 3:2 gegen Tottenham erzielte der „GOAT“ zum Glück einen Hattrick, sonst wäre das Thema vermutlich noch weiter medial eskaliert. So wie das Team in den ersten Wochen des Jahres 2022 in die Krise schlitterte, so verlor Rangnick auch zunehmend die Kontrolle über den Kader. Dies äußerte sich auch dadurch, dass kaum ein Spieler die Normalform erreichte und Spieler wie Rashford, Wan-Bissaka, McTominay Maguire oder Bruno ihre schlimmste Phase im Trikot der Red Devils erlebten. Ansatt neuen Wind mitzubringen und die unter Solskjaer so formschwachen Spieler zu motivieren, wurden die Leistungen des fast kompletten Kaders mit jedem Spiel etwas gequälter, während das klare taktische Konzept, was es bei der Premiere gegen Palace zu bestaunen gab, nie wieder zum Vorschein kam, wodurch Spiele allenfalls durch Einzelleistungen entschieden wurden.
Zu wenig Zeit?
Eine berechtigte Frage, ist natürlich, was man von Rangnick in so kurzer Zeit hätte erwarten können? Gewiss waren die Erwartungen hoch, wahrscheinlich zu hoch (auch von unserer Seite) als der deutsche Übungsleiter die Geschicke im Old Trafford übernahm, allerdings hätte man vom Professor sicherlich mehr erwarten können. Dabei gab es in letzter Zeit genug Beispiele was ein Trainer auch in kurzer Zeit erreichen kann. Chelsea bangte vor etwas mehr als einem Jahr unter der Leitung Lampards um die Champions League Qualifikation nur um unter Thomas Tuchel wenige Monate nach Amtsbeginn den Henkelpott in den Nachthimmel zu recken.
Dieses Märchen hätten unter den United-Fans selbst die größten Optimisten nicht erwartet, doch es gibt auch weitere Beispiele zum Vergleich, die zeigen wie uneffektiv Rangnicks Einfluss auf die Mannschaft gewesen ist. So spielt der FC Barcelona unter Xavi eine bärenstarke Rückrunde, wobei sich die Katalanen unter der Clublegende, ohne nennenswerte Trainererfahrung, von Platz 9 auf Platz 2 verbessert haben. Tottenham war im Kampf um Platz 4 weit abgeschlagen, hat nun aber den letzten Champions League Platz nach vier Siegen in Folge selbst in der Hand. Egal ob Tuchel, Xavi oder Conte, keiner der drei hat dabei den Fußball neu erfunden, sondern ihre jeweiligen Teams anhand ihrer Stärken eingestellt und ihren Teams eine klare Identität gegeben, das was man sich eben von Rangnick im Voraus gewünscht hatte. Selbst dem viel gescholtenen Vorgänger Ole Gunnar Solskjaer gelang es in kurzer Zeit in der Saison 2018/19 United zu stabilisieren und auch eine beachtliche Serie zu starten. Der Norweger hat fraglos auch einen gewissen Anteil an der derzeitigen Misere, doch Rangnicks bisheriger Leistungsnachweis trägt ironischerweise eher dazu bei die Amtszeit Solskjaers in ein besseres Licht zu rücken.
Mildernde Umstände gibt es natürlich: sei es die Tatsache, dass der Kader überaltert ist und auch wichtige Stammspieler wie Maguire, McTominay, Rashford oder sogar Shootingstar Fernandes weit von der Normalform entfernt sind, sowie auch, dass man sich im Januar auf dem Transfermarkt personell nicht verstärken konnte oder wollte. Trotzdem zeigt die Mannschaft unter Rangnick trotz bestehender Probleme kaum Fortschritte. Die guten Auftritte zu Beginn sind alle verpufft. Von Fortschritt oder Aufbruchstimmung ist keine Spur mehr. Stattdessen müssen wir uns von “Experten” anhören wie dysfunktional der Verein sei und wie sehr die vorherigen Trainer versagt hätten, wodurch Rangnick gar nicht verantwortlich sein könne. Zu einem Großteil mag dies auch stimmen, doch bisher ist Rangnick jeglichen Beweises als “Retter” oder “Architekt des Erfolgs” schuldig geblieben. Keiner hat einen Effekt á la Tuchel oder Xavi erwartet, aber zumindest mal ein ansehnliches Spiel oder ein unerwartetes Erfolgserlebnis hätten doch drin sein können?!
Das Aus gegen Atletico kam sicherlich nicht unerwartet, aber auch hier wäre mehr Leidenschaft und mehr Gegenwehr wünschenswert gewesen, wodurch die Rojiblancos wohl selten ein Achtelfinale so locker für sich entschieden haben. Wenn ein 1:0 gegen Palace das höchste der Gefühle ist, hätte man gleich David Moyes halten können oder einen Mourinho sowieso. Auch fußballerisch blieben die Darbietungen vieles schuldig. Lediglich 35 Tore in 21 Partien sprechen dabei Bände. Wenn die sportliche Talfahrt wenigstens Unterhaltungswert geboten hätte und hier und da ein spektakuläres 3:3 dabei gewesen wäre, hätte man zumindest für die neue Spielzeit etwas Hoffnung schöpfen können. Obendrein hätten die Fans, neben Anthony Elanga, auch mehr junge Spieler im Kader erwartet, sei es ein Garnacho, Hannibal, Shoretire, Savage oder McNeill. Rangnick hingegen blieb bisher stur beim Kader, der unter Ole bereits so spektakular versagt hat. Mittlerweile zeigt das Team unter dem Deutschen nicht den Hauch eines positiven Ansatzes. Kein Gegenpressing, keine Spielfreude, keine Stabilität. Rangnick erreicht die Mannschaft schlicht und einfach nicht mehr, was angesichts seiner eindeutig vorhandenen Expertise ein Armutszeugnis für die Spieler, aber auch für ihn selbst und sein Ansehen ist.
Licht am Ende des Tunnels?
Nochmal klargestellt: Ralf Rangnick hat natürlich Sachverstand und unter den richtigen Bedingungen ist er selbstverständlich in der Lage großes zu leisten und erfolgreiche Konstrukte zu erschaffen, wie in Leipzig oder Hoffenheim. Im hier und jetzt, bei Manchester United als Interimstrainer hat sich Rangnick aber als Fehlgriff erwiesen, zumindest wenn man die sportliche Entwicklung der letzten Wochen betrachtet (Mit 47% Siegquote schlechtester United-Trainer in der Premier League). Jeder der den deutschen Fußball beobachtet, hätte aber vermutlich bereits im November geahnt, dass Rangnicks Stärken mittlerweile eher Abseits des Fußballplatzes liegen, statt an der Seitenlinie, wodurch die momentane Flaute nicht wirklich verwunderlich sein sollte. Auch wenn Rangnick nun keine Zukunft mehr als Trainer bei United hat und auch nicht auf absehbare Zeit Sportdirektor wird, muss seine Interimszeit nicht umsonst gewesen sein. Sollte man mit Hilfe Rangnicks einen Trainer finden, der zum einen zu United passt, aber auch die Kriterien eines modernen Trainers erfüllt, hätte er ohnehin einen Großteil am kommenden Erfolg geleistet.
Zudem bleibt es zu hoffen, dass er mit seiner ehrlichen Art nicht nur Englands Journalisten beeindruckt hat, sondern auch die Männer aus dem Vorstand, die den Verein in den letzten Jahren ins sportliche Tal gestürzt haben und nun hoffentlich dargelegt bekommen, in welch desolatem Zustand der Verein sich befindet. Das Trainerintermezzo Rangnicks wird man folglich also wohl erst in ein paar Jahren richtig bewerten können, als United-Fan der sich in der Gegenwart die Spiele in dieser Saison zu Gemüt führen muss, wird man allerdings erleichtert sein, wenn im August ein neuer Trainer an der Seitenlinie steht. Denn Auftritte wie beim 0:1 gegen Everton am Samstag tun als Fan immer noch weh, auch wenn die Saison de facto schon gelaufen ist.