
18. August 2022
Von Adam Englert
Es ist kaum auszuhalten. United wandelt momentan von Tiefpunkt zu Tiefpunkt und als Fan weiß man gar nicht wohin mit den negativen Emotionen. Dabei ist es gerade mal ein Jahr her, als wir am ersten Spieltag Leeds mit 5:1 im Old Trafford abfertigten und als Tabellenführer in die neue Saison starteten. Nur 12 Monate später ist unser so stolzer und erfolgreicher Verein nur noch ein Schatten seiner Selbst:
Seither haben wir erst unserer Vereinslegende Ole Gunnar Solskjaer einen unwürdigen Abgang als Trainer beschert, danach auch unter Ralf Rangnick keine Besserung gesehen, wobei man zum Saisonende völlig auseinander brach und eine Packung nach der anderen kassierte. Dieses sportliche Versagen wurde auch begleitet von weiteren Störfaktoren, sei es die Suspendierung von Sturmtalent Mason Greenwood, das traditionelle Herumeiern auf dem Transfermarkt, die Transfersagas um Paul Pogba und zuletzt um “Heilsbringer” Cristiano Ronaldo, und obendrein die parasitären Glazers, die für die Rahmenbedingungen des ganzen Chaos verantwortlich sind. Es tut momentan nur noch weh United-Fan zu sein, und das traurigste ist, dass es sehr wohl noch viel schlimmer werden kann, womöglich schon am Montag, wenn der FC Liverpool ins Old Trafford kommt.
Nun ist Erik ten Hag unser Teamchef, unter dem alles besser laufen sollte, doch nach nur zwei Partien haben wir 0 Punkte und 1:6 Tore auf dem Konto, auf dem Papier zwei Spiele, die man eigentlich gewinnen wollte und sollte. Egal was die Gazetten schreiben und die “Experten” von sich geben, Erik ten Hag ist ein begnadeter Coach, der Erfolg haben wird, wenn nicht in diesem Verein, dann woanders. Daran werden diese zwei Niederlagen nichts ändern, auch wenn der Niederländer für die Misere zum Start nicht völlig schuldfrei ist.
Transfers
Zehn neue Spieler! Das war die Anzahl an Neuzugängen, die Interimscoach Ralf Rangnick gefordert hatte, um United langfristig wieder zurück in die Spur zu führen. Man kann vom Trainer Rangnick halten, was man will, aber wenn es um Kaderplanung und langfristigen Erfolg geht, gibt es im Weltfußball wohl keinen besseren Kader-Architekten als den Mann aus Schwaben. Die Bilanz bisher: drei Neuzugänge, die aber allesamt Positionen bekleiden, wo wir halbwegs passabel aufgestellt waren, nämlich Linksverteidiger, Zehner und Innenverteidiger. Man muss an dieser Stelle kein ausgewiesener Experte sein, um zu wissen, dass dies bisher viel zu wenig Transfers für einen Neustart sind. Während unsere Konkurrenten sich mit Weltklassespielern bereichert haben und auch viel für die Breite des Kaders getan haben, haben wir unsere zahlreichen Abgänge (Pogba, Mata, Lingard, Henderson, Matic, Pereira, Cavani u.a) keineswegs annähernd adäquat ersetzt. Somit müssen wir zwingend in den nächsten zwei Wochen auf dem Transfermarkt aktiv werden, besonders in Anbetracht des katastrophalen Saisonstarts. Denn Fakt ist, dass unser Kader schlichtweg nicht gut genug ist, sowohl qualitativ als auch in der Breite, um mit den anderen Topteams in der Liga mitzuhalten.
Dies hat aber auch zur Folge, dass wir unsere Erwartungen an die Namhaftigkeit der Neuzugänge deutlich zurückschrauben müssen. Wir müssen einfach akzeptieren, dass Spieler des Kalibers De Jong, Nunez oder Haaland nicht mehr zu United wechseln möchten, was bei dem derzeitigen Chaos auch völlig verständlich ist. Zudem haben wir in der Vergangenheit ohnehin mit “Weltstars” fast ausschließlich schlechte Erfahrungen gemacht (Di Maria, Lukaku, Sanchez, Pogba), wodurch ein Umdenken in diesem Bereich zwingend notwendig ist. Und über die Tatsache, dass unsere Scoutingabteilung Namen wie Rabiot, Arnautovic oder Icardi ernsthaft vorschlägt, dürfte nicht nur Gary Neville die Sprache verschlagen haben. Wir brauchen gerade bei United dringend ein neues Konzept, aber eben auch dringend neue Spieler, weshalb das Schicksal dieser Saison womöglich schon in den nächsten 14 Tagen entschieden werden könnte.
Hierbei ist aber auch Ten Hag in die Pflicht zu nehmen. Der Niederländer ließ in seinem ersten Interview verlauten, dass man nur Spieler scouten und verpflichten würde, die in sein taktisches Konzept passen. Dies ist sicherlich ein nobles Versprechen, aber auch viel zu idealistisch und naiv für ein Team, das seine letzten sieben (!) Auswärtsspiele mit einer Tordifferenz von 2:21 verloren hat. Wer gesehen hat, wie unser Mittelfeld von Brighton und Brentford überspielt und ausgehebelt wurde, muss einfach eingestehen, dass wir im defensiven Mittelfeld mindestens zwei neue Sechser brauchen. Egal ob das ein Tielemans, Haidara, Lerma, Caicedo oder sonst wer ist, wir brauchen dringend Verstärkung, System hin oder her. Und am besten sofort.
Taktik
Apropos System. Buchautor und Guardian-Journalist Jonathan Wilson beschrieb die Lage nach dem 0:4 am Wochenende treffend, als er schrieb, dass Erik ten Hag zwar eine schlechte Hand ausgeteilt wurde, er diese aber auch schlecht gespielt habe. Um im Kartenspieljargon zu bleiben: Erik Ten Hag hat sich in den zwei Saisonspielen bisher zweimal verpokert, was zwar jedem großem Trainer schon mal passiert, aber idealerweise nicht zu oft passieren sollte. In der ersten Partie gegen Brighton hatte der Niederländer im Angriff kaum Optionen, da Anthony Martial verletzt ausfiel und CR7 nur 45 in der Vorbereitung gespielt hatte. Ten Hag setzte dabei auf Christian Eriksen als falsche Neun, ein Experiment, das nach einer Halbzeit wieder beendet wurde. Erst nachdem Ronaldo das Zentrum bekleidet hatte und Eriksen sich auf die Acht bzw. Sechs fallen ließ, wurde auch das United-Spiel deutlich zwingender, was aber angesichts der zwei Gegentore im ersten Durchgang zu spät kam. Eine Woche später gegen Brentford ließ Ten Hag quasi genau dieselbe Elf spielen, die die zweite Hälfte gegen Brighton begonnen hatte. Diese Umstellung führte dann leider zu einem Desaster, da ausgerechnet Eriksen gegen seinen Ex-Verein im Spielaufbau gezielt gestört wurde, wodurch United zu keiner Zeit ins rollen kam. Dieses Schicksal ereilte ebenso dem anderen Neuzugang Lisandro Martinez, der aufgrund seiner Körpergröße, mehrmals gezielt angegangen wurde und ähnlich wie Eriksen eine schlechte Figur abgab, insbesondere beim 0:3. Kein guter Start also für die zwei Wunscheinkäufe Ten Hags, die stellvertretend dafür stehen, was in den bisherigen zwei Spielen schief lief.
Ten Hag hat eine klare Handschrift und eine genaue Vorstellung davon wie seine Teams Fußball spielen sollen. Leider befinden sich bisher allerdings Wunsch und Wirklichkeit Lichtjahre auseinander. United hat Stand jetzt schlichtweg nicht das Personal, um so zu spielen, wie es der ehemalige Ajax-Coach möchte. Angefangen beim Torwart David De Gea, der auf der Linie weiterhin einer der besten weltweit ist, aber in Spielaufbau und Strafraumbeherrschung, also die Zutaten für modernes Torwartspiel, klare Defizite aufweist. Man hat mit Martinez einen Innenverteidiger, der sicherlich jedem Topteam Europas, die regelmäßig Spiele dominieren, gut stehen würde, aber eben ausgerechnet bei United, dem Team mit dem nicht existierenden Mittelfeld einen Zweikampf nach dem anderen führen muss und auch die mangelnde Geschwindigkeit Maguires kompensieren muss, der aber wiederum die fehlende Physis eines Dalots oder Martinez wettmachen darf. Ansatt eines De Jong oder eines Fabinhos hat Ten Hag mit Scott McTominay und Fred zwei Sechser (und nur diese beiden), die viele Qualitäten besitzen, jedoch keines davon Ballbehandlung, Übersicht und Spielintelligenz sind. Und zuletzt fehlt es momentan im Angriff an Durchschlagskraft, da Spieler wie Bruno, Sancho oder Rashford sich im monatelangen Formtief befinden und Cristiano Ronaldo bei aller Klasse nicht mehr das Tempo und die Wendigkeit für Ten Hags Spielweise hat. Ohne weitere Neuzugänge wird Ten Hag also nicht so spielen können wie er es möchte. Allerdings hat man auch das Gefühl, dass der Übungsleiter, der bisher nur in der Eredivisie und der Regionalliga Bayern Cheftrainer war, die Qualität der Premier League unterschätzt hat, was aber verzeihbar ist, da selbst ein Pep Guardiola oder ein Jürgen Klopp in ihrer ersten Saison in England ordentlich Lehrgeld bezahlen mussten.
Daher muss sich Ten Hag langsam an die neue Umgebung gewöhnen und dementsprechend seinen Fußballstil anpassen. Sein Vorgänger Ole Gunnar Solskjaer hatte in Punkto Taktik und Flexibilität erhebliche Mängel, aber er kannte gleichzeitig sehr gut die Limitationen seiner Spieler und passte das System an, sodass United unter dem Norweger überwiegend als Konterteam auftrat, und dies sogar ziemlich erfolgreich. So ist nun die Aufgabe Ten Hags, die Stärken und die Schwächen seiner Akteure zu ertasten und sein Spielsystem an das eigene Spielermaterial und die teils übermächtigen Gegner anzugleichen. Keiner wünscht sich mehr „Total Football“ und schönen Offensivfußball als die Fans im Old Trafford, doch solange wir uns sportlich so sehr im Keller befinden, sollten Pragmatismus und Ergebnisfußball den Wunschvorstellungen des Trainers übergeordnet werden, zumindest bis die Krise halbwegs überwunden ist. Sollten wir nämlich mit einer ähnlichen Naivität gegen Liverpool antreten, wären wir mit einem 0:4 wohl noch gut bedient.
Grund für Optimismus?
Würde Erik Ten Hag morgen schon das Handtuch werfen, wäre es durchaus verständlich, denn die Probleme sportlicher und geschäftlicher Natur, die er in Manchester vorgefunden hat, sind eines Fußballvereins unwürdig, nicht zu schweigen eines der wertvollsten Sportmarken der Welt. Ten Hag wird uns hoffentlich länger erhalten bleiben, doch auch er wird sich der Liga und seinem limitierten Kader anpassen müssen.
Am Montag ist der FC Liverpool zu Gast (Live ab 21 Uhr auf Sky Sport Top Event) und obwohl man sich irgendwo auf das Spitzenspiel freut, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Partie mit einer weiteren Niederlage endet, womöglich höher noch als die Packung vom Samstag. Dies klingt etwas pessimistisch, doch angesichts der extremen Probleme, macht momentan wenig Mut, dass es gegen die Reds besser laufen wird.
Langfristig jedoch könnte Ten Hag sein System und seine beste Elf finden. Es bleibt nur zu hoffen, dass ihm diese Zeit auch gegönnt wird.