
Verletzungen und United: Ein Erklärungsversuch
Von Adam Englert
Am Dienstagabend flatterte die nächste Hiobsbotschaft ins Haus:
Lisandro Martinez und Victor Lindelöf werden beide jeweils bis zu einem Monat fehlen. Dies ist besonders bitter für “Licha”, der zuletzt zwei Monate ausgefallen war und erst gegen Brentford am Samstag sein Comeback feiern konnte, nun jedoch mit einer Wadenverletzung bis auf Weiteres ausfällt. Eine Geschichte, die für United in dieser Spielzeit nichts Neues ist. Insgesamt gab es in der Spielzeit 53 Fälle, in denen United-Spieler aufgrund einer Verletzung ein Spiel verpasst haben.
Rekordhoch in der Premier League
Dabei ist Man United keinesfalls der einzige Verein, der in der Saison 2023/24 viele Ausfälle beklagen muss. So hat die BBC bereits im November berichtet, dass es in der Premier League zu einer Rekordzahl an Verletzungen gekommen ist, wobei es ganze 15% mehr Ausfälle als in den vier Spielzeiten zuvor gegeben hatte. Und dies wohlgemerkt vor dem Winter, der in England einen ohnehin schon unmöglichen Spielplan aufweist. Die häufigste Verletzung ist dabei die Oberschenkelzerrung, die in der Regel durch eine überhöhte Belastung zustande kommt, und in England alleine um 96% im Vergleich zur Vorsaison zugenommen hat.

Angesichts dieser horrenden Zahlen wagt man zu fragen, woran das liegen mag?! Eine klare Antwort kann es dabei nicht geben, auch weil die Ursachen von Verletzungen vielfältig sind und jeder einzelne Fall vermutlich einen individuellen Grund hat.
Wir versuchen hier jedoch einige Gründe darzulegen, woran man die Flut an Verletzungen festmachen könnte und wie man eine solche Pechsträhne in der Zukunft verhindern kann.
Covid-19-Pandemie
Es klingt vielleicht etwas absurd, aber wenn man Verletzungen aus dem Jahr 2024 erklären möchte, muss man womöglich weit zurück ins Jahr 2020 blicken. Damals musste der komplette Fußballbetrieb im März 2020 auf der ganzen Welt aufgrund der Corona-Pandemie pausieren, in England ganze drei Monate lang, ehe der Fußball im Juni wiederaufgenommen wurde.

Trotz dieser Zwangspause wurde der Spielplan nicht verkürzt, stattdessen wurden die restlichen Partien im Hochsommer im Dreitagestakt nachgeholt, ein Prozess, der erst im August abgeschlossen wurde. In der Folge gab nur eine kleine Sommerpause, wobei der Spielbetrieb Anfang September wieder aufgenommen wurde. Im Sommer darauf fanden dann die Euro 2020 und die Copa America 2020 statt, die eigentlich im Jahr davor hätte stattfinden müssen, womit die Spieler einen zweiten Sommer belastet wurden, und das obwohl die Pandemie im Sommer 2021 noch auf der ganzen Welt wütete und auch einige Topstars für einige Wochen außer Gefecht setzen sollte.
Winter-WM in Katar
Im Anschluss an die Saison 2021/22 gab es zwar kein Sommerturnier, allerdings mussten die europäischen Nationalteams vier Spieltage der Nations League bestreiten, da zwei Länderspielfenster, die normalerweise im Herbst stattgefunden hätten, aufgrund der Winter-WM in Katar nach vorne verschoben wurden. Vor der WM gab es in England dann noch zusätzlich einen weitere Unterbrechung durch den Tod der Queen, sodass zwei Spieltage verschoben werden mussten und der ohnehin schon unmögliche Spielplan noch weiter zusammengeschoben wurde.
Anders wie bei den vorangegangen Weltmeisterschaften gab es für die Nationalspieler keine Vorbereitungszeit vor dem Showdown in Katar. So bestritt United sein letztes Ligaspiel auswärts bei Fulham nur 7 Tage vor dem Eröffnungsspiel der WM, womit die Spieler keinerlei Regenerationszeit vor dem großen Highlight hatten, ein Unding, dass es so noch nie gegeben hat.

Die WM endete anschließend nach 28 Tagen Ende Dezember, doch anders als die meisten Länder, die in die Winterpause übergingen, mussten Teams in England teilweise nur zwei Tage danach wieder antreten, so auch United, die am 23. Dezember im Ligapokal gegen Burnley gefordert waren.
Die Saison wurde in der Folge ohne weitere Pause zu Ende gespielt, eine Spielzeit, die für United besonders lange andauern sollte, da man den EFL-Cup gewinnen konnte, in der Europa League bis ins Viertelfinale kam und auch im FA Cup das Endspiel erreichte. Somit absolvierten die Red Devils 62 aus 65 möglichen Partien, eine Belastung, die nicht ohne Folgen bleiben konnte, besonders wenn man berücksichtigt, dass Erik ten Hag bedingt durch seinen kleinen Kader in seiner Debütsaison sehr wenig rotiert hat.
2023/24: Lange Vorbereitung, längere Nachspielzeit
Im Sommer bekamen die Spieler der Premier League nach drei Jahren endlich wieder eine längere Pause, dennoch mussten insbesondere die Topvereine auf Tour gehen, so auch United, die in knapp einem Monat acht Testspiele in vier Ländern absolvierten, eine Anreihung von Spielen, die mittlerweile normal ist, aber angesichts der hohen Belastung in der Saison davor, nicht unbedingt die klügste Vorbereitungswahl darstellt.

Die jetzige Saison begann wie gewohnt im August, aber eine Neuheit zur Vorsaison gab es trotzdem. Ähnlich wie die FIFA bei der WM in Katar, beschloss die Premier League Zeitspiel vermehrt zu ahnden und auch nachzuspielen, womit in dieser Saison die Spieldauer durch lange Nachspielzeiten bemerkbar angestiegen ist. In der jetzigen Saison ist so die Nettospielzeit um 3 Minuten (58 statt 55 Minuten) im Vergleich zur Vorsaison angestiegen, was für die Spieler wiederum nochmal die Belastung erhöht hat, eine Befürchtung die Raphael Varane bereits vor der Saison geäußert hatte.
Varanes Prophezeihung war hellseherisch und sollte sich ausgerechnet für die Red Devils negativ auswirken, die in dieser Saison alleine 53 unterschiedliche Verletzungen erleiden sollten.
Verletzungen führen zu Verletzungen
Neben der hohen Belastung aufgrund des Spielplans ist ein banaler Grund für die vielen Verletzungen …drum roll… die vielen Verletzungen. United hatte bereits im November 14 Ausfälle zu beklagen. Dieses frühe Pech hat somit dazu geführt, dass Ten Hag einen deutlich kleineren Kader als erwünscht zur Verfügung hatte und dadurch seine fitten Spieler überbelasten musste, da es aufgrund von Personalengpässen kaum Möglichkeit zur Rotation und Regeneration gab.

Bestes Beispiel dafür ist Lisandro Martinez, der am Samstag für den verletzten Victor Lindelöf eingewechselt wurde und dadurch vermutlich viel zu früh nach seiner langen Auszeit ins kalte Wasser geworfen wurde, ausgerechnet gegen eines der physischsten Teams der Liga. In dieser Saison gibt es zudem zahlreiche weitere Fälle, in denen Spieler zu lange spielen mussten und auch Spieler nach Ausfällen zu schnell wieder eingesetzt wurden, um andere Ausfälle zu kompensieren.
Kurz gesagt: Hat man einmal Verletzungspech, ist es also umso wahrscheinlicher, dass diese Tendenz fortgeführt wird, da der Trainer entgegen der Vernunft schlichtweg Spieler einsetzen muss, die müde oder nicht 100% fit sind.
Hinterfragen der Medizinabteilung
Trotz aller aufgeführten Gründe und Umstände ist es auch nicht verkehrt, die Arbeitsmethoden innerhalb des Vereins zu hinterfragen. So sollte man Kritik an die Medizinabteilung und auch den Trainerstab richten, die zusammen darüber entscheiden, wann Spieler eingesetzt und wie lange Verletzungen auskuriert werden. Momentan ist Sir Jim Ratcliffe dabei alle Bereiche innerhalb des Vereins zu hinterfragen und durchleuchten, weshalb auch eine Evaluation des Medizinstabs durchaus Sinn machen könnte, wenngleich in diesem Fall ein Fehlverhalten nur schwer nachweisbar sein wird.
Für die Zukunft wäre es jedoch ein Ansatz, den Weg zu gehen, den der AC Mailand Anfang der Nullerjahre vorgemacht hat. Damals wurde das sogenannte “Milan Lab” eingeführt, eine eigens errichtete medizinische Abteilung, die kostspielige Verletzungen der Starspieler vorhersagen und verhindern konnte und die Karrieren der Spieler über ihr erwartetes Alter hinaus verlängerte. Dies wäre nur eine von vielen Möglichkeiten, der hohen Belastung des englischen Fußballs entgegenzutreten, indem man Spieler zur richtigen Zeit schont und auch davor zurückschreckt, Spieler nach Verletzungen zu früh zurückzubringen, so wie es bei Martinez der Fall war.

Die Gründe und Ursachen der Verletzungen sind wie oben beschrieben vielschichtig und auch zu großen Teilen höherer Gewalt und dem absurden Spielplan geschuldet, dennoch wäre Ratcliffe gut beraten, diese hohen Zahl an Ausfällen mit einem Ineos-Team mit all ihren Ressourcen zu analysieren, damit so eine Flut an Verletzungen in der neuen Saison nicht noch einmal passieren kann.