Juni 6, 2023

“This feels like Manchester United again!” – Ten Hags Debütsaison in der Analyse Teil II

6. Juni 2023

Von Adam Englert

Der Saisonrückblick Teil II

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Herbst der Veränderung

Nach dem Sieg gegen Tottenham konnte man an der Stamford Bridge zwar das spielerische Niveau gegen Chelsea halten, leider aber war das Spielglück bei den Blues, die unter ihrem neuen Trainer Graham Potter kaum zwingend wurden, aber kurz vor Schluss einen Strafstoß zugesprochen bekamen, den Jorginho verwandelte. United hatte sich nicht viel vorzuwerfen, doch es sah so aus, als würde es an der Bridge die dritte Saisonniederlage setzten…bis eben zur 94. Minute: Shaw flankte perfekt an den Sechzehner, wo Casemiro sich hochschraubte und die Kugel ins Tor wuchtete. Der Neuzugang war anschließend nicht mehr zu bremsen und feierte frenetisch mit den Auswärtsfans im Eck. Bis zum Debakel im Etihad hatte noch Scott McTominay die Sechserposition bekleidet, aber fortan hatte der Brasilianer vor der Abwehr abgesichert und dabei die lang vermisste Stabilität zurückgebracht. Obendrein zeigte er gegen Chelsea mit seinem Ausgleichstreffer und dem losgelösten Jubel, dass er es mit den Red Devils ernst meinte und nicht des Geldes wegen nach Manchester gewechselt war. Somit war klar, dass United nicht nur einen Weltklasse-CDM dazu gewonnen hatte, sondern ein Mentalitätsmonster, der die Mannschaft antreiben und als Leader vorne weg gehen konnte. 

Insgesamt hatte es der Herbst aber in sich. Die WM in Katar warf seinen langen Schatten voraus, was wiederum bedeutete, dass jede Woche eine englische wurde, und es für Ten Hags dünnen Kader kaum Zeit zur Regeneration gab. So wurde es trotz sichtbarer Fortschritte ein wechselhafter Herbst, mit Höhen und Tiefen. Nach dem Last-Minute Remis bei Chelsea, gab es in der Premier League einen Heimsieg gegen West Ham und eine schmerzhafte Pleite im Villa Park gegen ein aufstrebendes Villa unter Unai Emery. In der Europa League qualifizierte man sich locker mit vier Siegen am Stück für das Sechzehntelfinale, verpasste aber trotz 1:0-Sieg in San Sebastian den Gruppensieg aufgrund der schlechteren Tordifferenz, weshalb der direkte Gang ins Achtelfinale verwehrt wurde.

Viva Ronaldo Garnacho

Torschütze beim Gruppenspiel im Baskenland war Youngster Alejandro Garnacho, der nach Vorarbeit Ronaldos sein erstes Profitor für die Red Devils erzielte. Dieses Kunststück gelang dem jungen Gaucho auch beim letzten Auftritt vor der WM-Pause auswärts im Craven Cottage. Ten Hags Elf war gegen den FC Fulham über weite Strecken unterlegen und rettete sich mit Ach und Krach mit einem 1:1 in die Nachspielzeit, bis die Stunde des quirligen Teenagers geschlagen hatte. In den finalen Sekunden der Begegnung spielte er einen Doppelpass mit Eriksen am Sechzehner und vollendete den Spielzug mit einem präzisen Flachschuss ins lange Eck. Ein sensationelles Tor und fast eine Kopie von Ronaldos ikonischem Treffer an selber Stelle mehr als 15 Jahre zuvor. Der Fußballgott hatte mal wieder ein unglaubliches Drehbuch geschrieben, mit einem leichten Hang zur Ironie.

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Mit dem späten Dreier in der Tasche verabschiedeten sich die Nationalspieler in die Wüste, während Ten Hag und sein Staff sich vermutlich auf vier ruhigere Wochen in Carrington freuten. Dachte man! Denn nur vier Tage vor dem Beginn der umstrittensten WM aller Zeiten, sprach die ganze Welt über ein umstrittenes Interview, von keinem geringerem als CR7. 

Kurz vor der WM ließ sich der Portugiese, der in Katar seine fünfte WM spielen sollte, vom kontroversen britischen Journalisten Piers Morgan interviewen, ein Gespräch in dem er seinen Unmut über die Situation im Verein äußerte. Selbstverständlich ohne vorher den Club um Erlaubnis zu bitten. Dabei ging Ronaldo auf zahlreiche Themen ein, schüttete sich das Herz aus, nahm aber gleichzeitig kein Blatt vor dem Mund und beleidigte von Ten Hag, Rooney, Rangnick Clubbesitzer und Teamkollegen eine Reihe wichtiger Personen, womit endgültig unausweichlich wurde, dass das Kapitel von Ronaldo und Manchester United vorbei sein würde. Zu groß war der PR-Schaden, zu riesig das Misstrauen zwischen Verein und Spieler.

Nur wenige Stunden nach dem zweiten Teil des Interviews veröffentlichte der Club eine Stellungnahme, worin die einvernehmliche Vertragsauflösung zwischen CR7 und United verkündet wurde. Ein trauriger Abschluss einer einst so großen Liebe. 

Martinez und Argentinien setzen sich die Krone auf

Nach der Trennung von den Red Devils musste Ronaldo jedoch schnell feststellen, dass seine Probleme auf dem Platz nicht exklusiv im Verein auftraten. Bei der WM wurde er im Laufe des Turniers auch zum Reservisten degradiert, während er mit seinen Ex-Kollegen Dalot und Bruno zusehen musste, wie Favorit Portugal gegen das Sensationsteam Marokko ausschied. Ebenso enttäuschend verlief das Turnier der Brasilianer mit Casemiro, Antony und Fred, die ebenfalls überraschend gegen Kroatien die Segel streichen mussten. Viel besser lief es auch bei den Three Lions um Maguire, Shaw und Rashford nicht, auch wenn letzterer mit drei Treffern ein starkes Turnier spielte. England schied trotzdem unglücklich gegen Weltmeister Frankreich mit Raphael Varane aus, wodurch die Franzosen ein Endspiel gegen Argentinien buchten.

Im wohl hochklassigstem und spannendstem WM-Finale der Geschichte setzen sich schließlich die Gauchos nach einem wilden 3:3 in 120 Minuten im Elfmeterschießen durch und gewannen zum dritten Mal den WM-Pokal. Mittendrin ein herausragender Lisandro Martinez, der zwar im Finale nicht spielte, aber in den Partien davor eine wichtige Säule in der Abwehr der Albiceleste bildete.

Somit hatte Manchester United nach Paul Pogba zuletzt wieder einen Weltmeister in ihren Reihen, der auch bei der Rückkehr ins Old Trafford Ende Dezember frenetisch gefeiert wurde. Und das zurecht.

Denn der sportliche Aufstieg bei den Red Devils hatte auch direkt mit den Leistungen des nur 1,75 großen Argentiniers zu tun. Sein Partner in der Innenverteidigung Raphael Varane hatte auch beachtlichen Anteil, doch Martinez und das Old Trafford war Liebe auf den ersten Blick. Viele Experten in England hatten gezweifelt, ob der kleine und eher unerfahrene „Licha“ sich in der Premier League zurechtfinden würde. Ferner noch, dachte man in den Medien, dass der Neuzugang von Ajax mit der physischen Gangart überfordert sein würde und den kantigen Mittelstürmern weit unterlegen wäre. Im Nachhinein lässt sich sagen: Sie hätten nicht falscher liegen können.

Vom ersten Spieltag an warf sich “der Schlächter” in jeden Zweikampf und dominierte fast jeden seiner Gegenspieler mit seiner einzigartigen und aggressiven Spielweise. In kurzer Zeit wurde die Nummer 6 Publikumsliebling, wodurch es nach jedem Tackling und jeder gelungenen Aktion “Argentina, Argentina, Argentina” aus der Stretford Ende hallte. Aber auch spielerisch spielte Martinez seinen Part, da er mit dem Ball am Fuß sich fast kinderleicht aus jeder prekären Situation herausmanövrieren konnte. Der Einstand von Lisandro Martinez war wie kein zweiter sinnbildlich für den sportlichen Aufstieg Manchester Uniteds, der nach der WM erst so richtig beginnen sollte.

Fortsetzung folgt…

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