Mai 19, 2025

„Lads, it’s Tottenham“ – Unser Finalgegner im Porträt

19. Mai 2025

Am 21. Mai kommt es im Europa-League-Finale zu einem rein englischen Duell. Obwohl beide Mannschaften vor der Saison als Mitfavoriten auf den Titel galten, ist die Finalpaarung dennoch eine kleine Sensation – beide Teams durchleben aktuell die schwächste Spielzeit ihrer jüngeren Vereinsgeschichte und liegen in der Premier League mit den Plätzen 16 und 17 weit hinter den Erwartungen zurück.

Bemerkenswert ist auch, zumindest für ein europäisches Finale, dass beide Mannschaften in der laufenden Saison bereits dreimal aufeinandertrafen – alle drei Begegnungen konnte Postecoglous Team für sich entscheiden. Es ist also ein Duell zweier Mannschaften, die sich aus dem Ligaalltag bestens kennen und am Mittwoch mit einer recht klaren Vorstellung in das Spiel gehen dürften, was sie erwartet.

Tottenham wird gerne auf das Attribut „Spursy“ reduziert – eine wenig schmeichelhafte Bezeichnung, die beschreibt, dass der Mannschaft in entscheidenden Momenten die Nerven versagen und sie letztlich leer ausgeht. Diese Einschätzung gründet sich auf die Tatsache, dass die Nordlondoner seit dem Ligapokalsieg 2008 keinen Titel mehr gewinnen konnten. Und das, obwohl man zwischen 2014 und 2019 unter Mauricio Pochettino eines der besten Teams Europas stellte, mit Spielern wie Kane, Son, Alli, Eriksen, Vertonghen, Alderweireld, Walker und Trippier.

Zwar erreichte man 2019 erstmals in der Vereinsgeschichte das Champions-League-Finale, doch auch dort blieb der große Triumph aus. Seit der Entlassung Pochettinos spielt Tottenham nicht mehr in der Spitzengruppe mit und hinkt in dieser Saison – ähnlich wie Manchester United – dem Geschehen in der Liga weit hinterher.

Bereits vor dem letzten Titelgewinn 2008 genoss Tottenham im englischen Fußball keinen besonders verlässlichen Ruf – zumindest in der Premier-League-Ära ab 1993. So soll Sir Alex Ferguson vor einem Spiel gegen die Spurs seine Mannschaft mit den berühmten Worten „Lads, it’s Tottenham“ auf die Partie eingestimmt haben – sinngemäß: Der Sieg ist ohnehin sicher. Auch Frank Lampard scherzte kürzlich mit Gary Neville darüber, dass man in der Chelsea-Kabine das alte Stadion an der White Hart Lane in „3 Point Lane“ umgetauft habe – so einfach sei es gewesen, dort als Auswärtsteam zu gewinnen.

Dieses Image war allerdings nicht immer gerechtfertigt. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten die Spurs zu den erfolgreichsten Teams des Landes. 1961 gewannen sie als erstes englisches Team im 20. Jahrhundert das Double aus Meisterschaft und FA Cup. Zwischen 1962 und 1991 kamen fünf weitere FA-Cup-Titel hinzu. Auch international war man erfolgreich: 1963 gewann man den Europapokal der Pokalsieger, 1972 und 1984 den UEFA Cup – den Vorgänger der heutigen Europa League.

Doch all das ist Geschichte und für das Finale am Mittwoch weitgehend irrelevant. Es zählt das Hier und Jetzt – und aktuell tun sich beide Teams in der Liga extrem schwer. In der vergangenen Saison sah das bei Tottenham noch anders aus: Unter Ange Postecoglou verpasste man mit Platz 5 nur knapp die Qualifikation zur Champions League, spielte dabei über weite Strecken ansehnlichen und mutigen Fußball. Angesichts der konservativen Ausrichtung unter Antonio Conte in der Vorsaison war dies ein beachtlicher Fortschritt – obwohl man in der Endabrechnung sogar drei Plätze besser dastand.


Ange Postecoglou ist stark von ballbesitzorientiertem, offensivem Fußball geprägt. Er lässt sich dabei unter anderem von Pep Guardiola und Marcelo Bielsa inspirieren. Sein Spielstil bei Tottenham steht für hohe Fluidität, konsequentes Pressing, positionsgetreues Spiel sowie schnelle Umschaltmomente. Die Mannschaft agiert fast ausschließlich im 4-3-3-System, wobei die Außenverteidiger Udogie und Porro im Spielaufbau oft ins Zentrum einrücken.

Im Mittelfeld setzt Postecoglou auf zwei tiefere Sechser und einen offensiv ausgerichteten Zehner. In der Offensive agiert Dominic Solanke zuweilen als falsche Neun, um das Spiel flexibler zu gestalten. Für das Finale sind James Maddison, Lucas Bergvall und Dejan Kulusevski fraglich – mögliche Ausfälle, die zu Umstellungen im Mittelfeld führen könnten. Eine Abkehr von der Formation ist jedoch unwahrscheinlich, da Postecoglou nie von seiner Spielidee abrückt – eine Konsequenz, die ihm bei Niederlagen nicht selten Kritik einbringt.


Die Spielphilosophie von Postecoglou ist modern, kompromisslos und auf Dominanz ausgelegt. In Ballbesitz formieren sich die Spurs in einer offensiven 2-3-5-Struktur, wobei die Viererkette sehr hoch steht. Tottenham verteidigt mutig, beinahe riskant – selbst in Unterzahl hält Postecoglou an dieser Idee fest, wie das mittlerweile legendäre 1:4 gegen Chelsea im Herbst 2023 zeigte, als die Spurs in doppelter Unterzahl bis zum Abpfiff mit hoher Linie spielten und sich dennoch achtbar aus der Affäre zogen.

Gegen den Ball setzt Tottenham auf ein intensives Pressing mit klaren Pressing-Triggern. Auch bei Ballverlusten folgt sofort der Versuch, über Gegenpressing Kontrolle zurückzugewinnen, anstatt sich tief fallen zu lassen. Mit Ball bleibt die Formation 2-3-5 bestehen – Ziel ist es, durch ständige Bewegung und Positionswechsel Lücken in der gegnerischen Defensive zu reißen.

Auch im Spielaufbau geht Tottenham ins Risiko. Abstoßsituationen werden grundsätzlich flach über Torwart Vicario und die Innenverteidiger gelöst – lange Bälle sind praktisch tabu, selbst wenn der Gegner hoch anläuft. Man versucht bewusst, den Gegner zu locken, um dessen erste Pressinglinie zu überspielen und dadurch im Mittelfeld Räume zu schaffen. Im Schnitt liegt Tottenhams Ballbesitz bei rund 55 %, in der Vorsaison waren es sogar 60 % – ein Ausdruck der theoretischen Spielkontrolle.


Wenn Postecoglous Plan aufgeht, kann Tottenham eines der gefährlichsten Teams der Liga sein. Das aggressive Offensivspiel ist schwer zu verteidigen, wenn die Mannschaft ins Rollen kommt. Besonders im Mittelfeld dominiert man das Geschehen häufig, was zu zahlreichen Chancen führt. Der Höhepunkt dieser Saison war der historische 4:0-Auswärtssieg bei Manchester City im Dezember – Guardiolas höchste Heimniederlage als City-Trainer – ein Beleg dafür, wozu diese Mannschaft an einem guten Tag imstande ist.

Doch die Spielweise hat ihren Preis. Die hohe Risikobereitschaft führt zu einer erhöhten Anfälligkeit bei Ballverlusten – oft reicht ein einfacher Fehlpass, um Tottenhams Abwehr auszuhebeln. Die Spurs verzeichneten in dieser Saison die zweitmeisten Ballverluste ligaweit – ein maßgeblicher Faktor für die Vielzahl an Gegentoren und die 21 (!) Saisonniederlagen.

Auch in der Offensive läuft nicht immer alles rund. Da Postecoglou konsequent an seiner Formation und Spielweise festhält, ist Tottenham mitunter ausrechenbar. Gegen tiefstehende Gegner fehlt es häufig an Lösungen, da das Offensivspiel stark auf hohes Pressing und Ballgewinne in der gegnerischen Hälfte angewiesen ist. Der Abgang von Harry Kane hat eine Lücke im Sturmzentrum hinterlassen, die bislang nicht adäquat gefüllt wurde.


Trotz der unterschiedlichen Spielansätze eint United und Tottenham eines: In der Europa League zeigen beide Teams ihr besseres Gesicht – ganz im Gegensatz zu ihren Ligaauftritten. Bereits in der Gruppenphase wussten beide zu überzeugen – United wurde Gruppendritter, Tottenham zog als Vierter weiter.

Im Achtelfinale taten sich die Spurs schwer gegen AZ Alkmaar, setzten sich jedoch durch. Im Viertelfinale traf man auf Eintracht Frankfurt, den Europa-League-Sieger von 2022. Nach einem unglücklichen 1:1 im Hinspiel galt Tottenham im Rückspiel im Deutsche Bank Park als Außenseiter. Kurz vor der Halbzeit brachte ein Solanke-Elfmeter die Spurs in Führung, in der Schlussphase geriet man jedoch zunehmend unter Druck. Doch statt am Offensivprinzip festzuhalten, zog sich die Mannschaft tief zurück, verteidigte mit hohen Bällen und brachte das 1:0 über die Zeit – ein Bruch mit der Spielphilosophie „Big Anges“, der aber mit dem Einzug ins Halbfinale belohnt wurde. Es war ein Zeichen, dass Tottenham in Extremsituationen auch pragmatisch sein kann.

Im Halbfinale gegen die norwegische Überraschungsmannschaft Bodø/Glimt kehrte man wieder zur gewohnten Dominanz zurück und setzte sich deutlich mit 5:1 nach Hin- und Rückspiel durch, was alles andere als „Spursy“ ist.


Angesichts der Tatsache, dass Tottenham alle drei bisherigen Aufeinandertreffen in dieser Saison für sich entscheiden konnte (3:0 auswärts, 1:0 zuhause sowie 4:3 im EFL Cup), könnte man meinen, die Spurs gingen als Favorit in das Europa-League-Finale am Mittwoch. Dabei sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass Ruben Amorim nur bei zwei dieser Partien an der Seitenlinie stand und United im Carabao Cup beim 3:4 nicht mit der nominellen Stammelf auflief.

Entscheidend wird vielmehr sein, welchem der beiden Trainer es gelingt, seine Spielphilosophie in Bilbao auf den Platz zu bringen und die vorhandenen Ressourcen trotz zahlreicher Ausfälle an Schlüsselspielern optimal zu nutzen. Hinzu kommt die besondere Brisanz, dass beide Mannschaften – trotz enttäuschender Leistungen in der Liga – mit einem Sieg die Qualifikation zur Champions League schaffen und damit eine verkorkste Saison doch noch retten könnten.

Diese Konstellation birgt einerseits eine einmalige Chance, andererseits aber auch enormen Druck: Denn für den Verlierer bleibt nicht nur ein verlorenes Finale, sondern auch die bittere Erkenntnis, die schlechteste Saison der eigenen Premier-League-Ära endgültig aufarbeiten zu müssen, was auch mit personellen Konsequenzen einhergehen könnte.

Doch in einem einzigen Spiel kann vieles passieren – und United wird alles daran setzen, der „Spursy“-Erzählung ein weiteres Kapitel hinzuzufügen, während die Spurs versuchen werden mit ihrem ersten Titel seit 2008 ein eigenes Stück Geschichte zu schreiben.

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