August 5, 2022

Manchester United 2022/23 – Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

5. August 2022

Von Adam Englert

Nein, das war kein schlechter Traum! Die Saison 2021/22 ist wirklich so geschehen. Aber: Die Welt ist nicht untergegangen und der Fußball geht wieder los! Und das ist auch gut so!

Die letzte Spielzeit hätte aus United-Sicht wahrlich nicht schlechter verlaufen können. Ohne auf die zahlreichen schmerzhaften Niederlagen und Rückschläge einzugehen, kann man das Fußballjahr 2021/22 schlichtweg als Desaster deklarieren. Am Ende erreichten wir mit 58 Punkten und +0 Toren gerade so mit Ach und Krach die Europa League, was unterm Strich ein beschämendes Endresultat darstellt, das mit Abstand schlechteste seit der Einführung der Premier League. Das United im hier und jetzt hat mittlerweile nichts mehr mit den glorreichen Teams aus der Ferguson-Ära gemein, zu groß ist der sportliche Abstand zu unseren Rivalen Liverpool und City, die die Premier League nach Belieben dominieren. Die Red Devils, seit 2017 titellos, sind fraglos kein Topteam mehr, doch trotz aller Tristesse hat man das Gefühl, dass gerade in der kommenden Saison 2022/23 sich das Blatt für den englischen Rekordmeister wenden könnte!

Trainer

In dieser Spielzeit ruhen unsere Hoffnungen auf Star-Trainer Erik ten Hag, der im Mai einen Dreijahresvertrag als Cheftrainer unterschrieb. Angesichts des Debakels der letzten Saison, können wir uns äußerst glücklich schätzen Europas vielleicht begehrtesten Trainer geholt zu haben, da sich der 52-jährige Niederländer ehrlicherweise für deutlich einfachere und angenehmere Aufgaben hätte entscheiden können. Zum Glück für Manchester United hat Ten Hag seinen Mut und sein Selbstvertrauen unter Beweis gestellt und sich für unseren Verein entschieden, wodurch wir nach Jahren der Erfolglosigkeit wieder hoffnungsvoll nach vorne blicken können – und das durchaus zurecht.

Ten Hag hat in seiner Zeit bei Ajax mehrfach gezeigt, dass er in der Lage ist modernen und attraktiven Fußball spielen zu lassen und dies auch sehr erfolgreich. Obendrein hat er vielleicht wie kein anderer bewiesen, dass er auch mit bescheidenen Mitteln und vielen jungen Spielern es mit den Größten Europas aufnehmen kann, so vorallem 2018/19 als er mit Ajax nur Sekunden vom Champions League Finale entfernt war, in der letzten Dekade die mit Abstand größte Underdog-Sensation in der Königsklasse. Ohne Frage, einen besseren Übungsleiter hätte United zu diesem Zeitpunkt nicht holen können, da es mit Blick auf unsere sportliche Abgeschlagenheit, ein ähnlich großes Wunder brauchen wird, um United an die Spitze des europäischen Fußballs zurückzuführen.

Transfers

Um zu verstehen wie monströs die Aufgabe Ten Hags ist, muss man nur auf das bisherige Transferfenster blicken. Unser neuer Cheftrainer hat zwar eine klare Vorstellung davon welchen Fußball er spielen möchte und auch welche Spieler er dafür benötigt, zu diesem Zeitpunkt aber sind wir, trotz drei Neuzugängen, seinen Wünschen noch nicht ansatzweise gerecht geworden. Unsere Neuen, Tyrell Malacia, Lisandro Martinez und Christian Eriksen sind zwar alles Wunschspieler Ten Hags, die auch eine tragende Rolle spielen werden, allerdings bekleiden sie ausgerechnet die Positionen, wo man bereits zufriedenstellende Optionen im Kader hatte, nämlich Linksverteidiger, Zehner und Innenverteidiger.

Spätestens seit dem Abgang von Nemanja Matic benötigen wir dringend einen Nachfolger auf der Sechs (angenommen Martinez spielt wie erwartet in der Innenverteidigung). Dabei ist es kein Geheimnis, dass Ten Hag sich seinen Ex-Spieler Frenkie De Jong gewünscht hätte, der momentan noch beim FC Barcelona unter Vertrag steht. Eigentlich schien der Wechsel vor einigen Wochen fix, wobei in den Medien sogar von einer Einigung zwischen United und den Katalanen die Rede war. Mittlerweile scheint eine Verpflichtung des vielseitigen Niederländers eher unwahrscheinlich, da er allem Anschein nach nicht zu United wechseln möchte, auch wenn die genauen Gründe für das Zusammenbrechen des Transfers noch etwas mysteriös wirken. Daher werden wir uns bis zum Ende der Transferperiode wohl anderweitig umsehen müssen und womöglich im zentralen Mittelfeld einen “CDM” unter Vertrag nehmen müssen, der nicht zu 100% in das Konzept Ten Hags reinpasst.

Diese Baustelle ist ohnehin schon bedrohlich, doch neben der Saga um Frenkie De Jong hat Ten Hag momentan noch ein viel größeres Problem zu bewältigen: Das Wechseltheater um CR7. Fakt ist, dass Cristiano Ronaldo United nach nur einer Saison verlassen möchte, United aber weiterhin bekräftigt, dass der fünfmalige Ballon d’Or Sieger unverkäuflich sei. Diese Pattsituation gepaart mit der Tatsache, dass ernsthafte Angebote für Ronaldo bisher ausgeblieben sind, bedeutet nun, dass diese Thema wohl bis zum Ablauf der Transferperiode kein Ende finden wird. Unterm Strich also alles andere als förderlich für unseren Verein, der nach einem Jahr Chaos wieder zur Ruhe kommen sollte, nun aber medial in keinem guten Licht dasteht.

Der Kader

Angriff

Der potentielle Abgang von CR7 bedeutet aber auch, dass sich United sich um einen neuen Mittelstürmer bemühen sollte, da der Kader im Bereich Angriff mittlerweile sehr dünn besetzt ist. Edinson Cavani, der Talisman der Spielzeit 20/21, hat den Verein endgültig verlassen, ferner haben die schweren Vorwürfe gegenüber Mason Greenwood dazu geführt, dass das “Jahrhunderttalent” wohl auf lange Sicht keine Option mehr sein wird, wodurch wir Ronaldo eingerechnet drei Leistungsträger im Sturm verlieren könnten. Positiv ist jedoch, dass der aus Sevilla zurückgekehrte Anthony Martial in der Vorbereitung auf der Neun eine gute Figur abgegeben hat und zum Saisonstart gesetzt sein dürfte, genauso wie Jadon Sancho und Marcus Rashford, die in der Preseason ebenso überzeugten. Mit Anthony Elanga, dem in der Vorsaison der Durchbruch gelang sowie den hochtalentierten Garnacho, Pellistri, Amad und Hannibal haben wir zwar aufregende Talente als Back-Up, dennoch überwiegt das Gefühl, dass man noch einen klassischen Mittelstürmer benötigen wird, um ausreichend Alternativen für das straffe Programm in vier Wettbewerben zu haben.

Mittelfeld

Hinter dem formstarken Dreiersturm wird Starspieler Bruno Fernandes weiterhin im Angriff die Strippen ziehen, zudem haben wir nun aber mit Christian Eriksen einen weiteren Spielmacher auf Weltklasseniveau, der nicht nur eine Alternative zu Bruno darstellt, sondern auch gemeinsam mit dem Portugiesen als eine Art Doppelacht fungieren könnte. Im defensiven Mittelfeld wird es wie in den Spielzeiten davor auf das umstrittene Duo Scott McTominay und Fred (“McFred”) ankommen, schlichtweg weil Stand jetzt noch kein neuer Sechser verpflichtet wurde. So werden wohl James Garner und Donny van de Beek alleine aufgrund des geringen Personals viele Einsatzminuten sammeln, allerdings sind beide bis jetzt noch den Beweis schuldig geblieben Premier-League-Niveau zu besitzen, ebenso wie Zidane Iqbal und Charlie Savage, die trotz guter Anlagen wohl vorerst eher keine tragende Rolle spielen werden.

Abwehr

Auch wenn es letzte Saison unsere größte Achillesferse war, haben wir mittlerweile in der Defensive am meisten Qualität in der Breite. Mit Kapitän Harry Maguire, Raphael Varane, Victor Lindelöf, Eric Bailly und Neuzugang Lisandro Martinez haben wir fünf erfahrene Innenverteidiger für beide Positionen im Zentrum der Abwehr, weshalb Erik ten Hag hier bedenkenlos und nach Beleben rotieren kann, wobei ein Abgang von einem Innenverteidiger sogar noch zu verkraften wäre (Phil Jones ist auch noch da!).

Ebenso gut besetzt ist mittlerweile die Linksverteidigerposition, wo wir mit Luke Shaw, Neuzugang Malacia und auch Brandon Williams, trotz des Abgangs von Alex Telles, ausreichend bestückt sind. Etwas dünner besetzt ist es auf der rechten Defensivseite, wo momentan Diogo Dalot noch die Nase vorne hat, womöglich aber von Youngster Ethan Laird im Laufe der Saison überflügelt werden könnte, sollte der Portugiese sich im Defensivverhalten nicht verbessern. Mit Blick auf die Spielzeit in der Vorbereitung dürfte nun aber ausgerechnet 50-Millionen-Mann Aaron Wan-Bissaka schlechte Karten haben, weshalb ein Wechsel des 24-Jährigen nicht mehr unwahrscheinlich ist.

Tor

Die größte Konstanz im Kader gibt es weiterhin auf der Torwartposition, wo David De Gea in seiner elften Saison die klare Nummer 1 zwischen den Pfosten ist. Nummer 2 ist Stand jetzt der erfahrene und in der Preseason überzeugende Tom Heaton, der trotz seines fortgeschrittenen Alters vor den jungen Talenten Kovar und Bishop in der Rangfolge stehen sollte.

Vorbereitung

Auch wenn der Kader keinesfalls vollständig ist und es in einigen Bereichen an Qualität mangelt, hat Erik ten Hag schon auf der Tournee bewiesen, dass er diese Gruppe durchaus zu guten Leistungen motivieren kann. So gab es bereits beim ersten Spiel seiner Amtszeit in Bangkok gegen Erzrivale Liverpool ein unerwartetes wie auch beeindruckendes 4:0. Leider eben nur ein Freundschaftsspiel, aber ein Start nach Maß, der nach den enttäuschenden Monaten davor etwas Balsam für die United-Seele war. Insgesamt ist der sportliche Wert der Tour in Thailand und Australien wohl gering, doch vielleicht war es gerade für diese Mannschaft, die letzte Saison so verunsichert wirkte, gar nicht so bedeutungslos einige Erfolgserlebnisse (4:1 gegen Melbourne, 3:1 gegen Palace, 2:2 gegen Villa) zu feiern, um etwas Selbstvertrauen vor der neuen Spielzeit zu tanken. Letztes Wochenende gab es allerdings zwei kleine Dämpfer, da es gegen Atletico in Oslo die erste Niederlage setzte und man ein Tag später auch gegen Rayo Vallecano (1:1) nicht gewinnen konnte, beides Partien die verdeutlichen, dass uns trotz anfänglichem Optimismus eher eine schwere Saison bevorstehen wird.

Konkurrenz

Dieser Eindruck bestätigt sich nur, wenn man in der neuen Premier League Saison unsere Kontrahenten betrachtet. Champion Manchester City und Vizemeister Liverpool waren letzte Saison mal wieder mit ihrer unfassbaren Konstanz das Maß aller Dinge, während vieles dafür spricht, dass die Mannen von Pep Guardiola und Jürgen Klopp den Meister wieder unter sich ausmachen werden. Größter Verfolger dürfte in dieser Saison Tottenham Hotspur sein, die in der Rückrunde mit Trainer Antonio Conte ebenso stark auftraten und sich seitdem sehr gut verstärkt haben. Des Weiteren haben sich auch die beiden anderen Londoner Clubs, Chelsea und Arsenal, auf dem Papier unglaubliche Qualität, wodurch jedem United-Fan bewusst sein sollte, welch schwieriges Unterfangen ein Top-4-Platz darstellen wird. Obendrein gibt es mit Teams wie West Ham, Aston Villa, Leicester oder Wolves denen ein Sprung in die Top 6 zuzutrauen ist, weshalb die Vorgabe sich für den Europapokal zu qualifizieren das realistische Minimalziel in Ten Hags erster Saison zu sein scheint, auch wenn der Anspruch unseres Vereins selbstverständlich ein ganz anderer ist.

Besonderheit

Nicht nur die Konkurrenz wird uns in der Saison 2022/23 große Kopfschmerzen bereiten, sondern auch die Tatsache, dass die Saison aufgrund der Winter WM (21. November bis 18. Dezember) in zwei Phasen aufgeteilt wird. Dies ist ohnehin schon ein Schlag ins Gesicht für alle Fußballpuristen, hinzu kommt aber noch, dass die 2. Runde des Carabao Cup nur 2 (!) Tage nach dem WM Finale ansteht, während die Premier League bereits am Boxing Day in die zweite Phase übergehen wird. Dank des straffen Terminplans werden wir zudem alle sechs Europa League Spieltage bereits vor der WM in Katar bestreiten müssen, ein absoluter Irrsinn, der die Gesundheit der Spieler gefährdet, besonders derer, die für ihre Nationalteams in Katar den WM-Pokal ausspielen.

Zwar hat die Premier League nach zwei Spielzeiten Auszeit endlich wieder die neue Wechselregel mit 5 Auswechslungen pro Team eingeführt, angesichts unseres dünn besetzten Kaders dürfte diese Neuerung eher unseren Konkurrenten entgegen kommen, die deutlich mehr Optionen auf der Bank haben. Dank der bescheidenen Vorsaison wird dafür unser Kontingent an WM-Kandidaten deutlich kleiner sein als sonst, wodurch wir zumindest in den Monaten Januar und Februar einen kleinen Vorteil haben könnten. Angesichts der ohnehin schon entsetzlichen Belastung des englischen Fußballs könnten wir aber besonders nach der WM das ein oder andere kuriose Ergebnis sehen, da alle Teams am surrealen Spielplan zu knabbern haben.

Ausblick

Auch wenn man als Fußballfan eher skeptisch auf die Saison 2022/23 mit der Wüsten-WM blick, überwiegt die Vorfreude, dass der Ball in Europas Ligen wieder rollt, auch wenn United im Kampf um die Premier League Trophäe wohl keine Rolle spielen wird. Vielmehr aber sollten wir als Verein in dieser Saison eine Portion Demut an den Tag legen und versuchen uns Schritt für Schritt zurück an die Spitze zu kämpfen, auch wenn dies ein langer beschwerlicher Weg sein könnte. Trotz allem haben wir Grund zur Hoffnung und Vorfreude: Unser neuer Cheftrainer Erik ten Hag hat eine klare Spielidee, reichlich Erfahrung (auch im Trainerteam) und auch das nötige Know-How aus unserer jungen talentierten Team wieder eine funktionierende Einheit zu formen, auch wenn dies Zeit brauchen wird.

Als United-Fans in dieser Saison müssen wir also geduldig sein und akzeptieren, dass auch ein Erik ten Hag seine Zeit benötigen wird, um sich in England zu akklimatisieren und unserem Team seinen Stempel aufzudrücken. Wir werden gewiss Rückschläge und einige Enttäuschungen verkraften müssen, dennoch können wir sicher sein, dass wir unter Ten Hag, sofern er vom Board unterstützt wird, nach und nach zur United-DNA zurückfinden werden und endlich wieder offensiven Fußball im Theater der Träume zu sehen bekommen. Und wenn die letzte Horrorsaison etwas Gutes hatte, dann die Erkenntnis, dass egal was in 2022/23 passieren mag, es wohl nur noch bergauf gehen kann…hoffentlich!

Auf eine geile neue Spielzeit! #GGMU#TenHagsArmy

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